Willkommen in Kördorf
Willkommen in Kördorf

Das Jammertal (die bekannteste Sage)

In einer stillen Gegend unseres Nassauer Landes, der Eisenbahngetöse und rauchender Schlote Qualm bis jetzt noch fern geblieben sind, wo unruhiges Hasten und Jagen, das unsere Zeit Leben nennt, den Frieden noch nicht gehört hat, liegt weltversteckt ein liebliches Tal.
Doch ist sein Name „Jammertal“.
Schon mancher Wanderer, der des Tales Ruf und Namen vernommen hatte, pilgerte erwartungsvoll vom Anfang bis zum Ende durch den stillen Erdenwinkel,brach sich Bahn auf schmalem Pfade und öffnete weit sein Auge der Herrlichkeit der reinen, unberührten Natur in ihrer ganzen Pracht; den stolzen Bergen, die ihn rings umgeben, in buntes Waldesgrün gekleidet, dem reichen grünen Rasenteppich, dem die Berge kärglich Raum lassen; und aufmerksam lauscht sein Ohr dem murmelnden Bächlein, das geschäftig von Stein zu Stein eilt.

 

Und war das Tal durchwandert in reichem Genießen, fragt der Wanderer wohl staunend:
„Wie ist dem schönen, stillen Winkel dieser Name geworden?“

 

Es geht darüber im Munde des Volkes eine alte heimliche Weise
von kurzem Glück und viel Tränen, Schmerz und Jammer.

 

Unweit Katzenelnbogens nimmt das Tal seinen Anfang und hat in diesem oberen Teile wohl seine schönsten Partien, besonders gilt das von einer Strecke, welche die Anwohner als eigentliches Jammertal bezeichnen.
Von den Dörfern Roth und Herold führen schmale Bergpfade hinunter, einstmals breiter, jetzt wieder mit Gestrüpp verwachsend.
Das Tal ist hier etwas breiter; die Berge sind zurückgetreten und lassen einer größeren Wiesenfläche Platz. Am Waldrand ragt altes Gemäuer auf.Kalte, öde Ruinen, vom Wind und Wetter zerbröckelt.
Des Mühlrads schwermütige Weise ist verklungen; versiegt ist die Waldquelle zur Sommerzeit;Gras sprießt aus dem Boden,wo einst wohl mancher Lebenswanderer sein Erdenleid und –glück getragen hat.

 

In alter Zeit standen die Gebäude, die das alte Fundamentgemäuer getragen hat, noch festgefügt; fröhliche Menschen walteten darin und ließen das Mühlrad treiben.Ruhe und Stille herrschten ringsum; nur zuweilen äugte das Wild durchs Gebüsch und schaute auf das seltsame Menschentreiben.Doch oft erschallte auch das Hifthorn und scheuchte die Tiere in wilde Flucht.

 

Die Grafen von Katzenelnbogen jagten in den Bergen. Traurigen Herzens dachte die schöne Müllerstochter der Leiden des verfolgten Wildes, bis auch sie des Jägers Pfeil ins Herz getroffen zu nie heilender Lebenswunde.

 

Der junge Grafensohn vom Schlosse war, müde vom langen Jagen, in der stillen Mühle zu kurzer Rast und Erquickung eingekehrt.
Und ob er auch seinen Weg wieder heimwärts lenkte, wie war`s nur, dass er nun häufig im Tale jagte zu stiller Abendzeit? Stets kam er ohne Beute heim, doch nie verzagt und missmutig.

 

Er jagte ja ein edles Wild: des Müllers Töchterlein.

 

Sie wahrte schlecht ihr junges Herz, und immer mehr und mehr nistete der adelige Jägersmann sich darin ein. Reiches Liebesglück trat in ihr junges Leben; gläubig lauschte sie, wie des Geliebten beredter Mund zukünftige Wonnen dem unerfahrenen Naturkinde ausmahlte, und sehnsuchtvoll schmiegte sie sich an seine Brust.

 

Still hüteten die lauschenden Waldesbäume das Glück kurzer Tage, und der Abendwind plauderte nichts aus.

 

Wieder war ein schöner Abend gekommen. Die Sterne strahlten vom klaren Himmel in stiller Pracht ins einsame Tal; leise flüsterten die Blätter der Bäume im sanften Abendwind; die Nachtigall sang ein liebliches Lied; sonst schlief die Natur.

 

Da standen im Waldesschatten, nahe der Waldquelle, zwei Menschen beim Abschied. Schwer musste er sein; denn selbst die Nachtigall hatte ermüdet ihr Lied beschlossen, als der Ritter mit langem Schritt durch Dorn und Dickicht schritt, und ein weinend` Mägdelein sein Lager suchte, dem die Ruhe fern blieb.

 

In ein fernes Land hatte es den Ritter gerufen, zu langer Kriegsfahrt, und sie blieb in Kummer zurück.

 

Wenige Monate gingen ins Land, da kam ein trauriger Tag, an dem schmerzgebeugte Eltern ihr verzweifeltes und flehendes Kind aus dem Staube aufhoben und dem Verführer fluchten.

 

Zwei Jahre verflossen dann weiter im Zeitenwechsel.

 

Reges Leben und Treiben herrschte auf dem stolzen Grafenfeste zu Katzenelnbogen. Ihr junger Herr und Gebieter war zurückgekehrt aus ruhmvollem Kampfe. Mit ihm war eine schöne, stolze Dame als Herrin eingezogen, die ihr väterliches Schloss verlassen hatte und ihm als Gemahlin gefolgt war.

 

Doch als die erste rauschende Freudenzeit vorüber war, erwachte auch im Herzen des Grafen wieder mächtig die Erinnerung vergangener Tage, die er so gerne hätte vergessen gemacht. Sie flüsterte ihm ins Ohr mit Allgewalt von dem brennenden Schmerze eines betrogenen Menschenherzens drunten im einsamen, waldumschlossenen Tal.

 

Den Weg, den sonst der fröhliche in sehnender Liebe durcheilt hatte, schritt jetzt zögernd der ernste Mann. Zur selben Stunde und Zeit stand er am wohlbekannten Platze.

 

Noch rauschte die Quelle in alter Weise; wieder sang die Nachtigall ihr lieblich` Lied im Waldesdunkel, und als hätte sie bloß des Tages gewartet, schritt die Gestalt der einstmals Geliebten dahin. Aus dem fröhlichen Kinde war ein ernstes Weib geworden; doch als der lang Ersehnte endlich am alten Platze harrend stand, flog über die Züge ein Freudenschimmer, und mit lächelnder Zuversicht hielt sie ihm entgegen – sein herziges Kind, das auf dem Arme geruht hatte.

 

Noch hatte diesmal der Nachtigall Lied lange nicht geendet, als eilenden Schrittes, wie von bösen Geistern gejagt, der heimliche Gast sich heimwärts begab.

 

Eine verzweifelte Frauengestalt blieb am Quell zurück und schaute dem Eilenden nach mit irrem Blick-

 

Erschöpft kauerte sie am Quellenrand. Weinend will das geängstigte Kind sich an die Mutter anschmiegen. Diese hält es weit von sich und schaut ihm stier ins Gesicht. – Des Vaters Züge sind es; seine Augen schauen sie an, der eben treulos für immer gegangen ist. Dunkle Nacht deckt ihren Geist; immer irrer wird ihr Auge und das Gesicht verzerrt. Krallende Finger greifen in des Kindes Hals.

 

Am anderen Morgen befreiten die trostlosen Eltern aus dem Schoße der Tochter, die in sich zusammengesunken am alten Platze hockt, mit Gewalt die kalte Kindesleiche, das junge Leben und die geistig gestorbene Tochter weinend betrauernd. Doch nahm der Erlöser aus allem Leid auch ihren Leib bald sanft hinweg.

 

Sie verließ für immer den schönen, stillen Ort, der ihr zum „Jammertal“ geworden war. Fortan blieb der traurige Name, und so wird ihn wohl das liebliche Tal behalten, solange es besteht und Menschen leben.

 

Noch heute soll zu stiller Nachtzeit an der Quelle eine Frauengestalt zu sehen sein, ein Kind im Schoß: die unglüchliche Mutter, die ihr Kind getötet hat und nun nicht Ruhe finden kann. Doch hat`s noch keiner sicher geschaut und den Ort zur selben Zeit bewandert.

 

Zur hellen Tageszeit strahlt auch über diesem Winkel der Sonne Schein und verscheucht die dunklen Schatten. Noch flüstern die Bäume wie damals; noch murmelt das geschwätzige Bächlein so mancherlei geheimnisvolle Dinge; doch ward noch keines Menschen Ohr die Sprache kund.

 

Nur im Volksmund geht die heimliche Sage von Enkel zu Enkel zur Winterzeit am Herdfeuer.

 

Die in der Sage erwähnte Jammertalsmühle wurde 1884 von ihren Bewohnern aufgegeben und damit der Natur überlassen.

 

Jahrzehnte dämmerte sie vor sich hin, bis einige Rentner aus Kördorf 2002 die Überreste der in Verfall geratenen Mühle freilegten. Auf einer Informationstafel wird die Geschichte der Mühle und Sage in Kurzform erwähnt.

 

Im Besitz der letzten Müller und Gastwirtsfamilie der Neuwagenmühle ist die oben erwähnte Sage in Gedichtform erhalten geblieben. Jedoch fällt die Mühle darin einem Feuer zum Opfer. Ein Lehrer aus dem Rheinland, der in der Neuwagenmühle seinen Urlaub verbrachte, hat sie uns 1935 wie folgt hinterlassen:

 

Von Katzenelnbogen der Junggraf ritt ins Tal hinein;
sein Herz ward hingezogen zum schönen Müllerstöchterlein.
Er pflückt` der Liebe Rosen, als sei sie schon sein eh`lich Weib;
und doch war all das Kosen dem Junker nur ein Zeitvertreib.
Die Schwüre sind vergessen; zu blut`ger Fehde zieht er aus.
Mit Kindesnot indessen sein Lieb sich grämt im Müllershaus.
O Jammer über Jammer! Die Eltern selbst verstoßen sie.
Fort muß sie aus der Kammer „Vergib mir Gott! In`s Grab ich flieh`.“
Im Dörsbach-Mühlengraben fischt man das arme Mädchen auf
samt ihrem kleinen Knaben. Auf Lieb` folgt Leid; s`ist Weltenlauf.
Hartherz`ger Eltern Mühle verzehrt zur Nacht die Feuersbrunst;
und nach des Tages Schwüle steigt spukhaft auf des Nebels Dunst.
Wenn bei des Baches Rauschen die Eule schreit, der Sturmwind braust,
kannst du dem Jammer lauschen, der über dieser Stätte haust.
Und nach der „Jammermühle“ hat man das Jammertal benannt,
die Felsenschlucht, die kühle, dem Wanderer an der Lahn bekannt.

 

Text: W.Kb. 1935